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Festveranstaltung 30 Jahre Abschaffung § 175 StGB im Bundesministerium der Justiz

Rede der Staatssekretärin, Dr. Angelika Schlunck, bei der Festveranstaltung 30 Jahre Abschaffung § 175 StGB im Bundesministerium der Justiz am 11. März 2024

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Redner Dr. Angelika Schlunck

Rede der Staatssekretärin, Dr. Angelika Schlunck, bei der Festveranstaltung 30 Jahre Abschaffung § 175 StGB im Bundesministerium der Justiz am 11. März 2024

Wir feiern heute einen bedeutenden, einen schönen Tag in der deutschen Geschichte. Am 10. März 1994 beschloss der Bundestag die Aufhebung des § 175 StGB – die dann am 11. Juni 1994 in Kraft trat.
Der Paragraph, der über 120 Jahre homosexuelle Männer kriminalisiert hatte, wurde endlich abgeschafft.

Sie, liebe Frau Leutheusser-Schnarrenberger, damals Bundesjustizministerin, sagten dazu im Deutschen Bundestag:
„Endlich kommen wir heute dazu, den historisch belasteten §175 StGB abzuschaffen. Ab jetzt gibt es nicht nur mehr Freiraum für homosexuelle Handlungen; der Staat macht auch deutlich, dass ihn gewaltfreie und einverständliche sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen und Fast-Erwachsenen nichts angehen.“

Was eine Selbstverständlichkeit hätte sein müssen, war zu lange keine: dass der Staat sich nicht einzumischen hat in das Intimleben seiner Bürger, es sei denn zum Schutz vor Missbrauch und Zwang.

Über 120 Jahre lang stellte der § 175 Männer, die Männer liebten, außerhalb des Rechts – in erschreckender Kontinuität vom Kaiserreich über Weimarer Republik, Drittes Reich bis zu DDR und Bundesrepublik.

Diese Schande unserer Rechtsgeschichte entsprang also nicht dem Nationalsozialismus, und sie endete auch nicht mit dessen Niederlage.
Unter jeder Regierungsform, die dieses Land erlebt hat, wurden homosexuelle Männer strafrechtlich verfolgt.

Ungefähr 140.000 Männer wurden in den Jahren der Gültigkeit des § 175 StGB wegen gleichgeschlechtlicher „Unzucht“ – so hieß es bis 1973 – verurteilt.

Die Gerichte der Besatzungsmächte schickten 1945 die aus den Lagern befreiten Homosexuellen in reguläre Gefängnisse, damit sie ihre Strafen dort zu Ende verbüßten.
Bundesdeutsche Staatsanwaltschaften fanden in den 50er Jahren nichts zu beanstanden an den Urteilen, die vor 1945 gesprochen worden waren.

Ungefähr ein Drittel der Verurteilungen auf Basis des § 175 StGB erging zwischen 1949 und 1969, hinzu kamen 100.000 Ermittlungen. Erst 1969 erfolgte eine Gesetzesänderung, die homosexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Männern über 21 Jahren nicht mehr verbot. Den Jugendschutz als Deckmantel missbrauchend ging die Diskriminierung männlicher Homosexualität damit aber weiter.

Es gehört zur Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet die DDR für die Aufhebung dieses schändlichen Strafrechtsparagraphen eine Vorbildfunktion hatte. Dort nämlich wurde das Sonderstrafrecht für homosexuelle Menschen bereits 1988 abgeschafft.
Da dann im Zuge der Wiedervereinigung eine Rechtsangleichung nötig war, wurde der § 175 auch aus dem Strafgesetzbuch der Bundesrepublik gestrichen.

Der Rechtsstaat BRD erhielt in diesem Bereich also Nachhilfe von der DDR. Ein Umstand, der verdeutlicht, wie gut Rosa von Praunheim den Titel seines Dokumentarfilms aus dem Jahr 1971 gewählt hatte: „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt.“

Der § 175 StGB war in Paragraphenform gegossenes Unrecht. Das Recht hatte Unrecht getan. Und dieser Staat, die Bundesrepublik Deutschland, dieser Rechtsstaat hatte zu lange gebraucht, um dieses Unrecht zu beseitigen.

Dabei hat uns das Grundgesetz von Anfang an etwas ganz Anderes gesagt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“. Die Würde und die Freiheit des einzelnen Menschen waren von Anfang an der zentrale Auftrag des Grundgesetzes.

Das ist ein bedeutender, nie abgeschlossener Auftrag; und doch ist dessen Erfüllung nicht immer mit großem Aufwand verbunden, im Gegenteil.

Denn zum Verhältnis des freiheitlichen demokratischen Rechtsstaats zu seinen Bürgern gehört auch eine gewisse Distanz, eben die Nichteinmischung. Der Staat legitimiert sich manchmal durch Abwesenheit.

Es hat ihm in einigen Bereichen in jedem Sinne egal zu sein, was seine Bürger tun und lassen; vor allem hat es ihm egal zu sein, wen und wie sie lieben.

Und wir sollten uns hüten, in diesem Fall von Toleranz zu sprechen. Bei Goethe heißt es, ich zitiere: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“

Nein, der Staat hat die Liebens- und Lebensformen seiner Bürgerinnen und Bürger nicht zu dulden, denn er hat sich nicht an ihnen zu stören. Er hat sie anzuerkennen.
Und wenn er sich dann doch einmischt, dann hat er sich so einzumischen, dass er diese Liebes- und Lebensformen ermöglicht und ihnen nicht Hindernisse in den Weg legt oder sie gar verbietet.

Genau das ist eine unserer Aufgaben in diesem Hause: die Anerkennung und die Ermöglichung von Lebensformen. Die Würde jedes einzelnen Menschen ist unantastbar; und die Freiheit jedes einzelnen Menschen ist zu wahren und zu mehren dort, wo noch Unfreiheit ist.

Das heißt aber selbstverständlich auch: Wo versucht wird, die freie Entfaltung der Persönlichkeit einzuschränken, wo die Menschenwürde nicht geachtet wird, mischt sich der liberale Rechtsstaat sehr wohl ein.
Eben deshalb haben wir für eine bessere Erfassung und Strafzumessung mit Bezug auf queerfeindliche Straftaten gesorgt.
Solche Taten, die sich gegen die sexuelle Orientierung oder die geschlechtliche Identität von Menschen richten, können nun härter bestraft werden.

Die eigene sexuelle Identität frei leben zu können: Das ist nicht nur ein Grundbedürfnis, es ist ein Grundrecht. Mit dem Selbstbestimmungsgesetz, das nun zur Beratung im Bundestag liegt, tragen wir dem Rechnung. Das Grundgesetz schützt das Recht auf Achtung der geschlechtlichen Identität. Wir wollen es Menschen erleichtern, ihre empfundene Geschlechtsidentität gegenüber dem Staat zur Geltung zu bringen.

Zu lange ist ihnen das nur möglich gewesen mittels langwieriger und teilweise entwürdigender Prozeduren. Das muss ein Ende haben.

Mit der Reform des Abstammungsrechts, zu der wir Anfang des Jahres Eckpunkte vorgelegt haben, wollen wir die bestehende Benachteiligung von gleichgeschlechtlichen Paaren und ihren Kindern beseitigen. Kinder, die in eine Partnerschaft von zwei Frauen geboren werden, dürfen nicht schlechter gestellt sein als Kinder, die in eine Partnerschaft von Mann und Frau geboren werden. Sie sollen von Geburt an beide Frauen als Eltern haben können, ohne ein Adoptionsverfahren durchlaufen zu müssen.
Zugleich muss es aber auch rechtssicher möglich sein, die Elternschaft in einer Konstellation zu regeln, in der sich ein schwules und ein lesbisches Paar verabreden, ein Kind zu zeugen.

Gleichzeitig mit den Eckpunkten zum Abstammungsrecht haben wir die Eckpunkte zur Reform des Kindschaftsrechts vorgelegt. Auch hier geht es darum, es den Bürgerinnen und Bürgern in ihren jeweiligen Lebenssituationen einfacher zu machen. Viele Eltern wollen ihre Kinder nach einer Trennung partnerschaftlich betreuen. Wir wollen, dass das Recht Eltern dabei unterstützt – und ihnen mehr Freiraum lässt für die Vereinbarung von Lösungen, die für sie und ihre Kinder passen.

Es gibt immer mehr Familien, in denen soziale Elternteile neben die rechtlichen Eltern treten oder leibliche Elternteile nicht auch rechtliche Elternteile werden. Das Recht muss diese Wirklichkeit anerkennen.
Außerdem wollen wir die Rechtsposition von Kindern stärken und den Schutz vor häuslicher Gewalt in Sorge- und Umgangsverfahren verbessern.

Meine Damen und Herren, es gibt einige, die sagen, dass diese Vorhaben doch nur sehr kleine Gruppen beträfen, und fragen, ob es nichts Wichtigeres gebe.

Ich glaube, wer das Grundgesetz ernst nimmt, dem ist vollkommen klar: Die Rechte einer Minderheit sind nicht geringer zu schätzen als die Rechte der Mehrheit.
Der französische Schriftsteller Charles Péguy hat einmal geschrieben, dass eine einzige Ungerechtigkeit, die Gesetz ist, ein einziges Unrecht, das offiziell legal ist, den Gesellschaftsvertrag breche und eine ganze Nation entehre.

Damit ist ein hoher, ein strenger Anspruch formuliert. Die Bundesrepublik, das zeigt das Beispiel des § 175 unangenehm deutlich, ist einem solchen Anspruch nicht immer gerecht geworden. Und ich weiß nicht, ob wir heute diesem Anspruch immer gerecht werden. Denn auch der freiheitliche demokratische Rechtsstaat macht Fehler, große Fehler, wie wir wissen.

Aber er hat zugleich diesen Anspruch an sich selbst: ein Staat zu sein, in dem das Recht herrscht und das Unrecht keinen Platz hat.
Und weil er ein demokratischer Rechtsstaat ist, hat er immer wieder die Chance, sich zu korrigieren. Manchmal kommen diese Korrekturen sehr spät, beschämend spät.
Aber dass sie auch sehr oft kommen und dass sie immer kommen können, das verdanken wir unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung.

Und wenn wir heute die Abschaffung des § 175 feiern, feiern wir damit auch diesen Rechtsstaat: nicht für seine Fehlerlosigkeit, nicht für seine Vollkommenheit, aber für seine immer bestehende Fähigkeit, an die Stelle des Unrechts das Recht zu setzen. So wie er es am 11. Juni 1994 getan hat.

‒ Es gilt das gesprochene Wort! ‒

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