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„Das ist nicht die neue Normalität“

Justizminister Dr. Marco Buschmann über Corona-Schutzmaßnahmen, einen „Freedom Day“ und gerechte Justiz

Datum 13. Februar 2022
Interviewter Dr. Marco Buschmann
Interviewer Maria Fiedler, Lea Schulze und Paul Starzmann

Justizminister Dr. Marco Buschmann über Corona-Schutzmaßnahmen, einen „Freedom Day“ und gerechte Justiz

Herr Buschmann, Ihre FDP-Fraktion will zum 20. März alle Corona-Maßnahmen bis auf die Maskenpflicht fallen lassen. Ist das der Plan für einen deutschen „Freedom Day“?

Fakt ist, dass wir die Eingriffsermächtigungen für Corona-Schutzmaßnahmen mit einer „Sunset-Klausel“ versehen haben. Wenn der Bundestag die Rechtsgrundlagen also nicht verlängert oder eine andere gesetzliche Grundlage schafft, werden die Schutzmaßnahmen zum 19. März auslaufen. Es ist deshalb richtig, dass wir bereits jetzt eine Debatte darüber führen, welche Maßnahmen überhaupt noch begründbar sind. Wir brauchen einen Fahrplan. Die Menschen müssen wissen, worauf sie sich einstellen können.

Trotzdem sagen einige: Es ist angesichts der Lage zu früh, sich darüber zu unterhalten.

Das darf kein Tabu sein. Die Begründung für teilweise schwerwiegende Grundrechtseingriffe war vor allem, dass eine Überforderung des Gesundheitssystems verhindert werden sollte. Schon jetzt sieht man, dass Omikron seltener zu schweren Krankheitsverläufen führt – trotz der hohen Zahl von Infektionen. Der Chef der Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß, sagt, er erwarte keine Überlastung der Krankenhäuser durch Omikron mehr. Da müssen wir uns schon fragen: Brauchen wir noch die Grundrechtseingriffe? Brauchen wir sie in diesem Umfang?

Derzeit sterben täglich 160 Menschen an Corona, bei Lockerungen könnte die Zahl auch wieder steigen. Das ist kein Argument für Sie?

Jeder Tote ist ein Toter zu viel. Aber wir müssen in unserer Gesellschaft eine Abwägung vornehmen, welche Risiken wir noch hinnehmen können und welche nicht mehr. Auch andere Krankheiten, bei denen wir nicht zu solchen Maßnahmen greifen, führen zu Todesfällen. Bei Corona haben wir mittlerweile den Vorteil, dass sich die meisten Menschen durch Impfung und Maske vor Ansteckung oder schweren Verläufen schützen können. Hochbetagte Menschen schützen wir noch zusätzlich, etwa durch die Testpflicht in Pflegeheimen. Wir benötigen ehrlicherweise eine Debatte darüber, wann wir die Gefahr für so beherrschbar halten, dass wir der Gesamtbevölkerung die Einschränkungen nicht mehr zumuten können.

Was halten Sie von der Warnung Ihres Kabinettskollegen Karl Lauterbach von 500 Toten pro Tag, wenn man jetzt vollständig lockert?

Man muss vorsichtig sein mit solchen Modellrechnungen. Die Krankenhausbelastung etwa hat sich ja auch zum Glück weit weniger dramatisch entwickelt, als es Modellrechnungen befürchten ließen. Wir sollten den Menschen nicht mehr Angst einjagen, als es angezeigt ist. Viele befinden sich seit zwei Jahren in einer sehr belastenden Situation. Da muss man den Stress nicht noch vergrößern.

Die FDP will am 19. März alle Maßnahmen auslaufen lassen, die Grünen wollen sie weiter verlängern. Wie wollen Sie denn bei so viel Dissens im Kabinett einen Öffnungsfahrplan entwickeln?

Dieser vermeintliche große Dissens ist ein Missverständnis. Es gibt in der Koalition die klare Auffassung, dass die Maßnahmen zurückgefahren werden, sobald der Scheitelpunkt der Welle überschritten ist und sich die Gefahrensituation entspannt. Alles andere wäre auch schwer zu vermitteln. Mitte oder Ende Februar könnte es nach heutiger Einschätzung so weit sein. Wenn die Situation es erlaubt, sollten 2G im Handel, in Kultur und Freizeit sowie die Kontaktbeschränkungen für Geimpfte wegfallen und Veranstaltungen im Freien wieder möglich sein. Wir dürfen die aktuellen Einschränkungen nicht als neue Normalität begreifen.

Themenwechsel: In Ihren ersten Wochen als Justizminister waren Sie stark mit dem Thema Straftaten im Netz konfrontiert – beispielsweise mit militanten Corona-Leugnern, die auf der Plattform Telegram zu Gewalt aufrufen. Warum wirkt der Rechtsstaat da oft so hilflos?

Was die Rechtslage angeht, haben wir kein Defizit. Aber wir müssen den Fahndungsdruck erhöhen. Denken Sie an den mutmaßlichen Bundeswehrsoldaten, der im vergangenen Jahr zum Umsturz aufrief. Der wurde in kürzester Zeit identifiziert, festgenommen und verhört. Damit es überall so schnell geht, fehlt aber oft die personelle und materielle Ausstattung. Das muss sich ändern. Ich für meinen Teil setze mich zudem dafür ein, dass wir europaweite Regelungen für Soziale Netzwerke bekommen. Daher engagiere ich mich sehr für einen schnellen Erfolg beim europäischen Digital Services Act, kurz: DSA. Denn die Erfahrung zeigt, dass die geschlossene europäische Stimme auf solche Plattformen viel mehr Eindruck macht, als wenn 27 Mitgliedstaaten jeweils für sich ihre eigene Strategie wählen.

Sie wollen auch Online-Streifen der Polizei einführen, die in den Sozialen Medien nach dem Rechten sehen sollen. Wie muss man sich das vorstellen?

Nehmen wir ein Beispiel: In einer öffentlichen Chatgruppe wird eine Feindesliste veröffentlicht. Irgendein User stellt eine Liste von Namen ein, einer sagt: Denen sollten wir mal einen Besuch abstatten, von dem sie sich nicht wieder erholen. Jedem muss klar sein: Wenn durch solche Posts Personen gefährdet werden, muss man damit rechnen, dass die Polizeibehörden nicht tatenlos zusehen und hier tätig werden. Denn eines muss klar sein: Gewaltandrohungen oder Morddrohungen sind genauso wie auf der Straße auch im Netz strafbar und müssen dort strafrechtliche Ermittlungen und Konsequenzen nach sich ziehen. Daher muss auch in öffentlich zugänglichen Bereichen des Netzes die Polizei auf Streife gehen, wie sie es auch auf öffentlichen Plätzen in der analogen Welt tut. Dabei geht es nicht nur um Hasskriminalität im Netz.

Sondern?

Bei Telegram werden mehr oder weniger offen Drogen angeboten. Da gibt es User, die alles anbieten, was man nicht in der Apotheke legal erwerben kann. Sie rufen andere auf, sich an einem bestimmten Ort in Berlin einzufinden, wo man die Drogen dann erwerben kann oder liefern diese per Taxi direkt nach Hause. Das ist inakzeptabel. Es wird immer wieder behauptet, das Internet sei ein rechtsfreier Raum. Das ist Unsinn. Dort gelten unsere Gesetze und es ist für die Polizei- und Strafverfolgungsbehörden auch möglich, dort zu ermitteln. Dazu muss sie dort präsent sein und die Augen offenhalten.

Aber glauben Sie, so bekommt man wirklich die Flut an Hass und Verrohung im Internet in den Griff?

Wenn der Fahndungsdruck im digitalen Raum steigt, dann steigt auch der Grad an Regeltreue, also die Bereitschaft, sich eben nicht enthemmt und nicht rechtswidrig zu äußern.

Als Justizminister müssen Sie sich auch mit der Gerechtigkeit des Justizsystems befassen. Der Journalist Ronen Steinke zeigt in seinem gerade erschienenen Buch „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich“, wie Geringverdiener und Arme benachteiligt werden. Ist das auf Ihrer Agenda?

Absolut. Menschen mit niedrigem Einkommen haben nicht die Möglichkeit, auf eigene Kosten einen Strafverteidiger zu beauftragen. In schweren Fällen oder wenn sie nicht imstande sind, sich selbst zu verteidigen, bekommen sie zwar einen Pflichtverteidiger. Das setzt aber häufig voraus, dass sie nach einer Belehrung auch einen entsprechenden Antrag stellen. Dadurch wird von diesem Recht oft kein oder erst später Gebrauch gemacht. Dabei ist es sehr wichtig, schon in der Phase des Ermittlungsverfahrens kompetent vertreten zu sein. Als FDP haben wir schon in der letzten Legislaturperiode für eine Pflichtverteidigung ohne Antrag ab der ersten Vernehmung plädiert und das auch im Koalitionsvertrag hinterlegt. Die allgemeine These, dass wir in Deutschland ein besonderes Problem mit Ungleichheit vor dem Gesetz haben, teile ich aber nicht – im Gegenteil. Wir haben viele Instrumente und Institutionen in Deutschland, die den Zugang zum Recht auch für ärmere Menschen gewährleisten.

Zum Beispiel?

In Großbritannien und den USA sind die Prozesskosten oft so hoch, dass die Leute enorm abgeschreckt sind und sie deshalb häufig nicht klagen. In Deutschland stehen wir besser da. Wir haben nicht nur geringere Kosten, sondern kennen auch die Prozesskostenhilfe. Außerdem gibt es zur Höhe der Geldstrafe obergerichtliche Rechtsprechung, die eindeutig sagt, dass das zum Leben finanziell Unerlässliche den Menschen nicht genommen werden darf. Bei Geldstrafen haben wir auch die Möglichkeit der Ratenzahlung.

Zum Teil passiert das aber doch. Steinke schreibt auch, dass mehr als die Hälfte derer, die eine Haft antreten, Geldstrafen- Schuldner sind. Menschen also, deren Vergehen nicht schwer genug für eine Haft war, die aber eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen, weil sie sich die Geldstrafe nicht leisten können. Ist das sinnvoll?

Vielleicht eine Klarstellung vorab: Wenn bei der Hälfte aller Haftantritte eine Ersatzfreiheitsstrafe vollstreckt wird, heißt das nicht automatisch, dass auch die Hälfte aller Insassen in Justizvollzugsanstalten eine Ersatzfreiheitsstrafe absitzen. Das liegt an der kurzen Haftzeit bei diesen Strafen. Es kommen viele Personen, sie gehen aber auch wieder recht schnell. Das führt dazu, dass nur rund zehn Prozent aller Insassen von Justizvollzugsanstalten wegen einer Geldstrafe in Haft sind. Aber auch das ist ein recht hoher Anteil.

So ist es.

Dass die Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen in der Praxis so weit wie möglich vermieden werden sollte, ist daher meiner Einschätzung nach inzwischen breiter Konsens. Da sind aber die Länder auch schon tätig geworden und es gibt einen regen Austausch, wie man das noch besser machen kann, etwa durch eine weitere Stärkung der Programme „Schwitzen statt Sitzen“ oder ein aktives Zugehen auf die Betroffenen, um ihnen beim Begleichen der Geldstrafe zu helfen. Nach dem Koalitionsvertrag wollen wir zudem prüfen, ob wir auch bundesrechtlich etwas beisteuern können, um zu weniger Vollstreckungen zu kommen. In Haft sollten vor allem die sitzen, die auch zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden.

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