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„Die Impfpflicht können wir nur stichprobenartig überwachen"

Bundesjustizminister Marco Buschmann über die Grenzen der staatlichen Kontrolle, die Neujustierung des Impfstatus und liberale Ideen im Praxistest.

Datum 28. Dezember 2021
Interviewter Dr. Marco Buschmann
Interviewer Corinna Budras

Bundesjustizminister Marco Buschmann über die Grenzen der staatlichen Kontrolle, die Neujustierung des Impfstatus und liberale Ideen im Praxistest.

Herr Buschmann, die neue Ampelregierung hat sich mit Verve in die Neugestaltung der Corona-Maßnahmen geworfen. Sie hatten einiges vor, sie wollten vieles anders machen. Jetzt ist das Infektionsschutzgesetz ziemlich unübersichtlich geworden. Was ist da schief gelaufen?

Natürlich ist es mir als Bundesjustizminister wichtig, dass Gesetze und Verordnungen übersichtlich und gut verständlich sind. Wichtiger als ästhetische Maßstäbe ist jedoch, dass die Corona-Maßnahmen erfolgreich sind. Genau das ist der Fall. Das mache ich an drei Punkten fest. Erstens: Die Maßnahmen funktionieren – die vierte Welle mit der Delta-Variante wurde gebrochen. Neuinfektionen sind über einen längeren Zeitraum zurückgegangen. Freilich ist das wegen Omikron kein Grund zur Entwarnung. Zweitens: Wir haben diesen Erfolg ohne einen Lockdown erzielt und ohne flächendeckende Schulschließungen. Und Drittens: Wir wollten Entscheidungen transparenter machen und das Parlament stärken – das ist gelungen.

Inzwischen schließen aber auch Sie keinen Lockdown mehr aus.

Der Bundesgesundheitsminister und ich sind uns einig: Wir brauchen gegenwärtig keinen Lockdown. Unsere Politik hat das Ziel, die Pandemie erfolgreich zu bekämpfen und dabei einen Lockdown und Schulschließungen möglichst zu vermeiden. Aber: Die Corona-Lage ändert sich fortlaufend. Wir haben es permanent mit neuen Gefahren zu tun und wir erwerben auch stetig neues Wissen über die Varianten des Virus. Ich halte es deshalb nicht für klug, Maßnahmen für alle Zeit kategorisch auszuschließen. Wichtiger aber als Spekulationen ist: Wir haben die erfolgreichste Booster-Kampagne in ganz Europa und stehen damit an der Spitze der Pandemiebekämpfung. Der Booster bietet zwar keinen hundertprozentigen Schutz; aber die bisherigen Studien zeigen, dass er auch bei der neuen Omikron-Variante sehr gut gegen schwere Verläufe schützt.

Sie haben lange Zeit die Fahne der Geimpften hochgehalten und gesagt: Die Impfung muss sich lohnen. Jetzt müssen erstmals auch geimpfte Menschen daran glauben, ab dem 28. Dezember müssen auch sie sich an die Kontaktbeschränkung halten. Markiert das eine Zeitenwende?

Die neuen Regelungen reagieren auf das neue Wissen über die Omikron-Variante. Sie machen weiterhin einen angemessenen Unterschied zwischen geimpften und ungeimpften Personen. Es gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: Wir müssen immer im Augen behalten, was die Alternativen sind, um uns wirksam zu schützen, und was unter diesen Alternativen das mildeste Mittel ist. Wir haben daher immer gesagt, dass maßvolle Kontaktbeschränkungen einem flächendeckenden Lockdown oder Schulschließungen vorzuziehen sind. Deshalb haben wir dieses Instrument schon von Anfang an ins Maßnahmenpaket aufgenommen, als wir das alte Recht abgelöst haben.

Bedeutet das allerdings nicht auch, dass man den Begriff des “vollständig Geimpften” ändern muss? Man kann doch jetzt gar nicht mehr sagen, dass zweifach geimpfte vollständig geimpft sind.

„Vollständig geimpft“ soll zum Ausdruck bringen, dass die Gefahr für sich und andere deutlich reduziert ist. Wenn es hier neue Erkenntnisse aus der Forschung gibt, werden wir darauf reagieren müssen.

Das bedeutet also: Den grünen Pass bekommt nur noch, wer drei Impfungen vorweisen kann?

Das EU-Zertifikat, auch als grüner Pass bezeichnet, ist ein digitales Hilfsmittel. Nach den EU-einheitlichen Vorgaben muss eindeutig aus dem Zertifikat hervorgehen, ob das Impfprogramm abgeschlossen wurde oder nicht. Das ist wieder eine Frage der wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Wirkungen der verwendeten Impfstoffe, die auf europäischer Ebene genau beobachtet wird. Auch die EU reagiert dann auf die neue Erkenntnislage.

Diese Lage haben wir ja schon: Omikron

Der Erreger ist nach allem, was wir wissen, sehr viel ansteckender als alle anderen bekannten Varianten. Auch doppelt geimpfte Personen kann er leichter infizieren. Zugleich zeigen Studien: Auch bei Omikron bietet die Booster-Impfung einen guten Schutz vor schweren Verläufen. Deshalb setzen wir so stark auf das Boostern.

Kommen wir auf die Impfpflicht zu sprechen, die ja lange Zeit von Politikern aller Fraktionen kategorisch ausgeschlossen wurde. Vielleicht können Sie uns als Verfassungsminister erst einmal erklären: Wie groß ist das rechtliche Problem, eine allgemeine Impfpflicht einzuführen?

Die Frage nach der Einführung einer allgemeinen Impfpflicht ist anspruchsvoll – in ethischer, politischer und auch in rechtlicher Hinsicht. Ich habe deshalb für ihre Erörterung im Parlament ein eigenes Verfahren vorgeschlagen. Wir werden zu dem Thema keinen Regierungsentwurf erarbeiten. Stattdessen werden die Abgeordneten des Deutsches Bundestages fraktionsübergreifend Gruppenanträge erstellen, über die sie dann jenseits der Fraktionsbindung beraten und entscheiden werden. Wir haben es hier mit einer Diskussion zu tun, die durchaus vergleichbar ist mit der Sterbehilfe oder dem Schwangerschaftsabbruch, also mit anderen schwierigen und tiefgreifenden medizinisch-ethischen Fragen. Hier kam dieses Verfahren auch zur Anwendung. Schließlich ist die Impfpflicht ein erheblicher Eingriff in die körperliche Integrität. Das vorgeschlagene Verfahren bietet die Gewähr, dass alle Erwägungen ausreichend Raum erhalten – und es vermittelt dadurch im Idealfall eine höhere Akzeptanz. In der Vergangenheit haben solche Verfahren jedenfalls befriedend in der Gesellschaft und im Parlament gewirkt. Das Ziel der gesellschaftlichen Befriedung sollten wir bei einer so polarisierenden Frage nicht unterschätzen.

Bisher ist auch noch unklar, wie häufig geimpft werden muss. Das hat es noch niemals gegeben.

So ist es. Allerdings befinden wir uns auch in einer außergewöhnlichen Situation. Nach Auskunft der Wissenschaft spricht viel dafür, dass wir erst ab einer bestimmten Impfquote aus der Pandemie herauskommen. Wenn wir auf diese Weise die schweren Belastungen für die individuelle Freiheit und die schweren medizinischen, seelischen und sozialen Belastungen der Pandemie beenden könnten, kann das einen Rechtfertigungsgrund für eine Impflicht darstellen. Auch eine Mehrheit der Verfassungsrechtlerinnen und Verfassungsrechtler ist wohl der Auffassung, dass eine Impflicht verfassungsrechtlich begründet werden kann. Das gilt jedenfalls dann, wenn man die Idee einer gestuften Impfpflicht, wie sie etwa in Griechenland eingeführt worden ist, mit einbezieht. Nur schwer rechtfertigen ließe sich hingegen, die Impfpflicht mit physischem Zwang durchzusetzen. Deshalb wäre es aus meiner Sicht vorstellbar, stattdessen ein Bußgeld zu erheben, wie wir es auch aus anderen europäischen Ländern kennen.

Das sind die rechtlichen Erwägungen, aber auch in tatsächlicher Hinsicht wird das ja kein einfaches Unterfangen: Wie kontrolliert man eine Impfpflicht überhaupt, bisher gibt es kein nationales Impfregister.

Bei nationalen Registern, die Daten über die gesamte Bevölkerung speichern, bin ich stets zurückhaltend. Datenschützer befürchten hier den Einstieg in einen umfassenden Zugriff des Staates auf alle Gesundheitsdaten der Bürgerinnen und Bürger. Man darf auch nicht vergessen, dass der Aufbau eines solchen Registers Zeit kostet, die wir nicht haben. Am wahrscheinlichsten ist es daher, dass man zunächst die Nachweise stichprobenartig kontrolliert und mit einem Bußgeld belegt, wenn jemand dieser Pflicht nicht nachkommt. Alles andere würde vermutlich zu lange dauern.

Aber ist es sinnvoll, eine Impfpflicht einzuführen, die man nicht vernünftig kontrollieren kann?

Die Frage ist, was man unter „vernünftig kontrollieren“ versteht. Nehmen sie eine Vergleichsüberlegung: Als wir 3G in öffentlichen Verkehrsmitteln eingeführt haben, haben viele gesagt: Das funktioniert nicht, weil ja nur stichprobenartig kontrolliert werde. Fakt ist: Es funktioniert. Und es hat dazu beigetragen, dass die Impfbereitschaft steigt. Wir sollten auch nicht vergessen, dass viele Menschen das Recht nicht allein aus Furcht vor Sanktionen befolgen, sondern weil sie von der Verbindlichkeit des Rechts überzeugt sind. Anders wäre geordnetes Zusammenleben gar nicht möglich. Der Staat kann und soll gar nicht jeden und alles jederzeit kontrollieren.

Die ersten Wochen des Regierens sind jetzt vorbei. Die liberalen Ideen der FDP mussten sich einem harten Praxistest unterziehen. Mehr Freiheiten für die Bürger können sie erst mal nicht liefern, auch einen schlankeren, regelkonformen Staatshaushalt gibt es nicht. Stattdessen kommt jetzt die Impfpflicht. Ist es jetzt nicht die richtige Zeit für eine liberale Politik?

Diesen Befund teile ich nicht. Wäre die Vorgängerregierung noch im Amt, dann hätten wir vermutlich schon längst wieder einen flächendeckenden Lockdown und Schulschließungen erlebt. Wir haben dagegen gezeigt, dass wir die vierte Welle brechen können – ohne diese Instrumente, die vorher immer das Mittel der Wahl waren. Die stärkeren Schutzvorgaben für das Arbeitsleben und die öffentlichen Verkehrsmittel zum Beispiel haben Wirkung gezeigt. Auch das sind natürlich Beschränkungen, aber diese sind nicht so weitreichend wie ein Lockdown oder flächendeckende Schulschließungen. Das zeigt schon, dass wir unserem Ziel gerecht werden, in der Pandemie einerseits wirksame Maßnahmen zu ergreifen, andererseits aber auch so viel öffentliches Leben wie verantwortbar zu gewährleisten.

Aber die Kritik gegen die FDP kommt von allen Seiten: Die Linken bezeichnen Sie als Bremser einer effektiven Pandemiebekämpfung. Eingefleischte FDP-Anhänger werfen Ihnen vor, Sie geben mit der Impfpflicht die liberalen Werte preis.

Marion Gräfin Dönhoff sagte einmal: „Der legitime Platz des Liberalen ist zwischen allen Stühlen. Es darf ihn nicht kümmern, wenn er von allen Seiten beschimpft wird.“ Der Kritik liegen Missverständnissen zu Grunde. Erstens: Alle reden über die Impfpflicht im Singular. Noch ist gar nicht klar, welche Modelle überhaupt in den Bundestag eingebracht werden. Zweitens: Wir haben uns dafür entschieden, dass das eben kein parteipolitisches Thema ist. Deshalb behandeln wir die Frage in fraktionsübergreifenden Gruppenanträgen. Und drittens möchte ich für mich betonen: Ich fühle mich dem Freiheitsbegriff des Grundgesetzes verpflichtet. Das Grundgesetz hat hier eine klare Regelungstechnik. Freiheit wirkt wie der Zaun eines Hauses, der den Vorgarten schützt: So verhält es sich mit den äußeren Grenzen des Schutzbereichs eines konkreten Freiheitsrechts. Möchte der Staat hier eingreifen, muss er vorher an der Tür des Zauns klingeln und sehr genau begründen, warum er den Vorgarten betreten möchte. Wenn es allerdings sehr gute Gründe gibt, dann ist es auch für den Staat legitim, den Vorgarten zu betreten. Wenn mein Haus brennt, darf die Feuerwehr vom Vorgarten aus das Feuer löschen, damit es nicht auf die Nachbarschaft übergreift. Die Freiheit der einen endet da, wo die Freiheit der anderen beginnt.

Als neuer Bundesjustizminister haben Sie auch die eine oder andere Baustelle ihrer Vorgängerin geerbt. Den besonderen Schutz für Hinweisgeber in Unternehmen hat sie nicht durchsetzen können, obwohl Deutschland dazu eine europäische Richtlinie umsetzen muss. Die Frist zur Umsetzung ist Mitte Dezember abgelaufen. Woran müssen sich Unternehmen jetzt halten?

Europäische Richtlinien sind im Regelfall nicht unmittelbar anwendbar, zumindest nicht zu Lasten der Bürger und Unternehmen. Vielmehr soll eine Richtlinie ja von den Mitgliedsstaaten im jeweils eigenen Recht umgesetzt werden. Ich werde deshalb so schnell wie möglich dafür sorgen, dass wir einen Gesetzentwurf vorlegen. Vorarbeiten existieren bereits. Die passen wir jetzt so schnell wie möglich an die Vorgaben des Koalitionsvertrages an. Ich habe dem EU-Justizkommissar Reynders auch schon mitgeteilt, dass er sich auf uns verlassen kann. Wir halten uns an europäisches Recht und werden die Richtlinie so schnell wie möglich umsetzen.

Wird diese Lösung über die europäischen Vorgaben hinausgehen, so wie es auch Ihre Vorgängerin Justizministerin Lambrecht wollte?

Ja, denn es wäre nicht stimmig, wenn man den Schutz von Whistleblowern ausschließlich bei Verstößen gegen europäisches Recht gewähren würde. Es kann ja nicht sein, dass wir Hinweisgeber, die etwa auf Verstöße gegen europäisches Datenschutzrecht hinweisen, schützen, aber sie im Regen stehen lassen, wenn es um andere wichtige Vorschriften geht. Denken Sie an wichtige Arbeitsschutzregeln, wo es ja um Leben und Gesundheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geht. Denken Sie an den Pflegebereich. Überall dort geht es um Verstöße gegen nationales Recht, die die europäische Richtlinie nicht erfasst. Wenn es in diesen Bereichen Missstände gibt, liegt es natürlich in unserem Interesse, dass diese auch schnell abgestellt werden. Hier können Hinweisgeber einen wichtigen Beitrag leisten. Daher verdienen sie Schutz.

Wo setzen Sie selbst die Schwerpunkte für Ihre Arbeit?

Ich begreife Rechtspolitik auch als Gesellschaftspolitik. Gerade im Familienrecht gibt es erheblichen Modernisierungsbedarf. Das Recht muss wieder stärker die vielfältigen Lebensrealitäten von Familien abbilden und praktische Lösungen bieten. Der zweite große Bereich sind die digitalen Bürgerrechte. Wir leben in einer digitalen Gesellschaft und immer mehr grundrechtsrelevante Lebensbereiche verlagern sich ins Internet. Wir sehen bei Themen wie Vorratsdatenspeicherung, Quellen-Telekommunikationsüberwachung oder dem Schwachstellen-Management, dass wir hier die digitalen Bürgerrechte stärken müssen. Ein drittes großes Vorhaben, das ich angehen werde, ist die Modernisierung und die Digitalisierung der Justiz. Während der Corona-Pandemie haben wir gelernt, dass viele Dinge, die man früher sehr skeptisch beäugt hat, in der Praxis sehr gut funktionieren – Videokonferenz-Technik beispielsweise. Wir werden daher die Voraussetzungen dafür schaffen, in der Hauptverhandlung Aufzeichnungen vorzunehmen, um diese besser zu dokumentieren. Wir wollen zudem einen “Digitalpakt Justiz” auf den Weg bringen. Er soll die Länder bei der Digitalisierung ihrer Gerichte unterstützen.

Herr Buschmann, kommen wir am Schluss zum gemütlichen Teil. In der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt ist, dass der neue Bundesjustizminister schon seit Jahren auf seinem Soundcloud-Kanal MBSounds eigene elektronische Musik veröffentlicht. Nimmt Ihre Karriere jetzt noch Fahrt auf?

Musik ist das schönste Hobby der Welt für mich. Und ich gehe ihm seit vielen Jahren nach. Ich habe mich als Schüler viel mit Kontrapunkt, Harmonielehre und Komposition beschäftigt. Seit meinem 14. Lebensjahr produziere ich elektronische Musik und irgendwann habe ich diesen Soundcloud-Kanal eingerichtet, um mit Freunden einfach mal Tracks zu tauschen. Als die FDP in der außerparlamentarischen Opposition war, hatte die Partei nur wenig Geld. Da habe ich eben mein Hobby in den Dienst der Partei gestellt und beispielsweise die Musik für den Europawahl-Werbespot 2014 produziert. Eine Musikkarriere strebe ich mit meinen Kompositionen aber nicht an. Dafür würde mein Talent auch nicht reichen. (lacht)

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